Giants
Wie ungerecht: Da schreibe ich über ein Lied von The The, aber in der Überschrift steht nicht „Slow Emotion Replay“. Dabei war „Dusk“ das Album des Jahres 1993, das am nachhaltigsten meine bis dato selbstverständlich gewordenen Hörgewohnheiten umgekrempelt hat. 1993 habe ich in einem heute nicht mehr existierenden Plattenladen gearbeitet und, höchst erfreut über den nahezu uneingeschränkten Zugriff auf Musik, alles gehört, was mir in die Finger kam, auch den hinterletzten Scheiß. Bis zu jenem Zeitpunkt konnte ich mit The The nicht viel anfangen. Es gibt Musik, da muss der Zeitpunkt einfach stimmen, man muss bereit für sie sein. Furchtlos gegenüber der Infragestellung und achtsam gegenüber der Koexistenz von Werten. Als dann die kongeniale Kollaboration von Matt Johnson und Johnny Marr meinem persönlichen Befindlichkeitshorizont mal eben ein paar Welt-Hits bescherte, fühlte ich mich nicht so sehr emotional überwältigt, sondern eher wie jemand, dem man alle Lebensweisheiten als trockenen Martini zum Bitte-nur-mal-dran-Nippen gereicht hat:
„'cause I ain't ever found peace upon the breast of a girl
I ain't ever found peace with the religion of the world
I ain't ever found peace at the bottom of a glass
sometimes it seems the more I ask for the less I receive“
Ob es die schwitzige Mundharmonika im Intro von „Dogs Of Lust“, die simple Treffsicherheit von „Lonely Planet“ („If you can’t change the world, change yourself. And if you can’t change yourself then…change the world“) oder eben die Zusammenfassung meiner kleinen spät-post-post-pubertären Lebenswelt in einem einzigen Song (wie gesagt: „Slow Emotion Replay“) war: Mit dieser Platte wird Matt Johnson unsterblich sein so lange ich lebe.
Bald darauf zog ich los und legte mir einen kleinen The-The-Back-Katalog an. So als ob es nur anderer Sinneseindrücke bedurfte, um das einmal Erlebte reproduzierbar zu machen. Das konnte natürlich nicht funktionieren. „Infected“ oder „Soul Mining“ sind zweifellos großartige Alben, aber ein erstes Date lässt sich eben nicht wiederholen – und dann war da ja auch noch die Sache mit dem Zeitpunkt…
„Giant“, das vorletzte Lied auf „Soul Mining“ hat sich ganz langsam, über einen langen Zeitraum, unbemerkt angeschlichen. Immer mal wieder ließ ich das Album versuchsweise durch meinen Player laufen, selten ist dabei etwas hängen geblieben. Ich könnte „den Zeitpunkt“ also gar nicht benennen, jenen Moment, in dem dieses 9-Minuten-Ungetüm mich mit all seiner Kraft gepackt und im Schleudergang durchgewirbelt hat. Aus heutiger Sicht wirkt vieles an „Giant“ etwas antiquiert: das 80er-Plastik-Schlagzeug aus dem Computer, der Synthesizer-Bass oder die Afro-Percussions und Kriegspfad-Gesänge, die gegen Ende die Führung im Arrangement übernehmen. Und doch ist nichts an „Giant“ peinlich, im Gegenteil sind all diese Elemente in ihrem Zusammenspiel unwiderstehlich hypnotisch. „Giant“ ist der große Bruder vom knapp 10 Jahre später aufgenommenen „Slow Emotion Replay“. „Giant“ ist Goliath, „Slow Emotion Replay“ sein David. So ein Satz wie „How Can Anyone Know Me When I Don’t Even Know Myself“ ebnete den Weg für „Everybody Knows What’s Going Wrong With The World – I Don’t Even Know What’s Going On In Myself“. Wer den „Kampf“ der Brüder gewonnen hat? Fragt mich doch noch mal, wenn es die Letzte Ölung gibt. Reinhören.
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