Blut, Schweiß und Tränen
Antony & The Johnsons in der Schorndorfer Manufaktur, 17. Juni 2005
Die schwere Hitze sitzt uns bereits im Nacken als wir in die Manufaktur eintreten. Drinnen legt sie uns noch weitere Gewichte um den Hals. Der Saal ist recht gut gefüllt, alle Stühle sind besetzt. Schweiß wohin man riecht. Ich versuche meinen von der langen Fahrt müden Körper mit Flüssigkeit zu stärken, doch es nützt nichts, ich muss unbedingt sitzen. Entlang der rechten Seite, zwischen Wand und Stuhlreihen, tun sich noch einige Lücken auf. Wir versuchen so weit wie möglich nach vorne zu gelangen, endlich kann ich mich auf den Boden sacken lassen, meinen Rücken gegen die Wand lehnen und mich über die fast freie Sicht freuen.
Rechts von mir streckt ein Mädchen blasse, aber kräftige Beine unter einem luftigen Rock hervor und dreht mir ihre schön geschwungene Schulter zu. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, sie wirkt jedenfalls noch sehr jung. Unruhe und ein derber Geruch von Fruchtbarkeit gehen von ihr aus. Endlich, das Licht wird gedämmt. Doch dann passiert eine ganze Weile gar nichts. Mein müder Blick folgt heimlich den Fingerkuppen des Mädchens, die auf nervösen Wegen über schwitzige Knie trippeln. Dann werfen ein paar Leuchter bunte Kegel auf die Bühne, dort wo neben einem gewaltigen Piano Cello, Bass, Violine und Akkordeon aufgereiht sind. Applaus: Fast lautlos schleichen einige Musiker zu den Instrumenten und nehmen vorne rechts ihre Plätze ein. Wieder Applaus als schließlich eine mächtige und schwammige Masse Mensch mit langem schwarz gefärbten Haar, dunkelroten Doc Martens und einer Umhängetasche an ihnen vorbeischlurft und sich an den Flügel setzt. Dann geschieht etwas für mich Außergewöhnliches. Bis dahin hatten Müdigkeit und drückende Hitze eine trübe Gleichgültigkeit in mir genährt. Als sich jedoch die traurig nach unten gebogene Sichel im feisten Gesicht dieses Meat Loafs einen Spalt weit öffnet und daraus die ersten zaghaften Töne durch den Raum schwirren, stürzt ein unerwarteter Schwall von Emotionen auf mich herab. Und zwar mit einer derart einnehmenden Gewalt, dass ich nicht anders kann, als mich dieser Stimme, die im Gender-Nirgendwo zwischen Elvis und Billie Holiday vorwurfsvolle Klagelieder an ein falsch auferlegtes Geschlecht richtet, hemmungslos hinzugeben.
Überall im Saal aufrichtige Ergriffenheit. Ich schließe die Augen und lasse alles willig mit mir geschehen. Vielleicht werde ich nie wieder so im Reinklang mit mir Lächeln, denke ich. Und ganz sicher werde ich nie wieder so dämlich dabei aussehen. Aber das ist mir in dem Moment egal. Sogar als mir ein paar Tränen über die Wange laufen, empfinde ich keine Scham.
Ich öffne die Augen erst wieder, als das Mädchen neben mir immer unruhiger wird. Man hört sie mit einer Freundin tuscheln. Hektisch klaubt sie ihre Sachen zusammen, schnellt auf, schiebt sich an mir vorbei und mit ihr ein Brodem von kruder Weiblichkeit. Auf dem Platz, wo sie gesessen hat, bleibt dunkle Schliere auf dem Boden zurück. Es ist ganz offensichtlich, dass das Mädchen menstruiert hat. Niemand saß an diesem Abend wohl näher an den Koordinaten der Antonyschen Selbstfindungstherapie als dieses blutende Mädchen. Denn in seiner Trauer – über den falschen Körper, mit dem er zur Welt kam, über die Frau, die er nie sein durfte, über die Kinder, die er niemals würde gebären können – menstruiert auch Antony. Jedes Lied eine neue quälende Monatsblutung, der immer wieder aufs neue heraufbeschworene Schmerz über die verpasste Chance eines vielleicht erfüllten Lebens. Antonys Geschichten erzählen von diesen ausgeschlagenen Möglichkeiten: Denn dort darf auch ein Jabba the Hutt verführerische Venus spielen, darf von wohlriechenden Stuttgarter Buben schwärmen, Frau sein und sich als hilfloses Kind gebären. So wie im Schlussakkord des vierten Liedes auf "I am a bird now": “Forgive me, Let live me, Set my spirit free, Weakness sown, Overgrown, Man is the baby”.
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