Freitag, Juli 28, 2006

Girl Bros.

Bei der Hitze kann ja kein Mensch schlafen. Also ich jedenfalls nicht. Was macht man also, wenn's auf der Matratze zu heiß, wenn das Buch längst durchgelesen, es zum Telefonieren zu spät und zum TV-Glotzen zu blöd ist? Richtig, man surft auf seinen Lieblingsseiten rum. Da jedoch der NPG-Musicclub seine Pforten geschlossen (und Prince bekanntlich nicht mal mehr eine Frau) hat, verschlägt es einen zu Künstlern, die man inzwischen ein wenig aus den Augen verloren glaubte. Über Wendy & Lisa zu schreiben ist für mich in etwa so wie über Prince zu schreiben: Ich werde nicht einen sachlichen Satz zu dem Thema zustande bringen, nur so etwas wie "werde ich immer über alle Maßen lieben". Sätze also, bei denen es mit dem Informationsgehalt nicht weit her ist. Freilich, der ein oder andere kleine Unterschied lässt sich dann doch ausmachen: Prince hat nämlich - so objektiv muss man wohl sein - auch schlechte Lieder respektive Platten gemacht. Wendy & Lisa nicht. Wie ein Schwamm habe ich ihre Musik aufgesaugt. Dabei hat mich vielleicht nicht immer alles berührt, doch gab es nicht ein Lied, das mich nicht überzeugt hätte. Und was ich gestern Nacht sozusagen noch einmal neu für mich entdeckt habe, ist das faszinierende Künstler- und Musikerkollektiv, das sich im Girl Bros.net tummelt, die unzähligen Verästelungen und Verzweigungen, welche in Bereiche greifen, die auf den ersten Blick zwar nichts mit dem klassischen Minneapolis Sound zu tun haben, die aber bei genauerer Betrachtungen Verbindungen aufdecken, die Sinn machen und Verstehensprozesse in Gang setzen. Dafür steht allein schon die Erkenntnis, dass Gary Coleman, Lisas Vater, auf gefühlten drei Viertel der Platten, die in meiner Sammlung stehen, mitgespielt haben muss (wer mit Eddie Kendricks, David Axelrod und Steely Dan gespielt hat, kann nur Gott sein. Und für Wendys Vater, Mike Melvoin, gilt im Prinzip dasselbe). Dann gab es da noch David Coleman, Lisas Bruder, ohne den es einen der großartigsten Prince-Platten-Opener (Around The World In A Day), nie gegeben hätte und der leider im Jahre 2004 verstorben ist. Wendys Bruder, Jonathan Melvoin, ist bereits seit 1996 tot. Ihn kennt man, je nach Blickrichtung, entweder als Tour-Drummer der Smashing Pumpkins oder eben weil man vor ca. 20 Jahren von "Do U Lie?" um seine kleinen Drum-Licks gewickelt worden ist. Wendys Zwillingsschwester Susannah wiederum hat auf dem Original von "Nothing Compares 2 U" gesungen und auf so ziemlich jeder Platte von Doyle Bramhall II. Man könnte noch ewig so weiterspinnen (Wendy, Lisa und Doyle haben z.B. noch hier mitgespielt oder da), aber es wird langsam unübersichtlich - dabei habe ich über Mary Lou Ynda noch kein Wort verloren und will von Waldorf Salad gar nicht erst anfangen (obwohl damit doch alles angefangen hat). Zwei Dinge sind mir gestern Nacht jedenfalls klar geworden: Es wird höchst Zeit für ein neues Wendy & Lisa-Album. Und: Meine Nächte sind gerettet!

Montag, Juli 24, 2006

Best Of Google-Referer, Part Two

Und um hier mal wieder die Kernkompetenzen ins richtige Licht zu rücken: Sucht man nach "The Rainbow Children", kann es nur einen "Gewinner" geben!

Samstag, Juli 22, 2006

Best Of Google-Referer, Part One

Sucht man sachkundige Antwort auf die Frage "Wie müssen geschminkte Augen aussehen?", so steht meine kleine Seite in der Liste kompetenter Ansprechpartner immerhin an zweiter Stelle. Demnächst hier also auch die Rubrik "nur die guten Schminktipps"...

Donnerstag, Juli 20, 2006

The Durutti Column – Sketch For Summer

Ich höre selten Radio. Es gibt einfach kaum eine Sendung, die mich interessiert. Und wenn ich es doch mal einschalte, dann meist im Auto, auf der Autobahn. Beim Fahren zwei Filme vor meinem geistigen Auge: In dem einen sieht man meine Einzelteile (und die meines Autos) entlang der Leitplanke verteilt, mitten auf der Fahrbahn eine immer schneller um sich selbst eiernde Radkappe und dazu spielt irgendeine Eins-Live-Combo, dessen schrottiges Plärren am seidenen Faden des letzten funktionierenden Kabels hängt. Der andere Film zeigt Fernfahrerromantik: Wie ich auf kaum befahrener Autobahn das Lenkrad gen Sonnenuntergang halte. Der passende Soundtrack zu beiden Filmen wäre Sketch For Summer von The Durutti Column.

The Durutti Column – das ist das Ein-Mann-Band-Projekt von Vini Reilly. 1980 erschein bei Factory Records das erste Album
The Return of the Durutti Column. Darauf sind neun Instrumentalstücke zu hören, es beginnt mit Sketch For Summer. Zum ersten Mal habe ich das Lied bei Up From The Underground gehört (mit 9 stand ich halt eher auf Baccara als auf so was), während einer dieser besagten Autobahnfahrten. Das Stück ist recht simpel gehalten, eigentlich besteht es nur aus 2 Melodiebögen, die sich in mehreren Schleifen umeinander krümmen und in Wiederholungen variiert werden. Es beginnt mit einem im Telespiel-Sound generierten Vogelgezwitscher, bald darauf puckert ein düsterer und altersschwacher Drum-Computer los bis sich endlich, in mehreren Schichten, dieses unglaublich herzzerreißende Gitarrenspiel über alles schiebt. Zwei Aspekte machen Sketch For Summer – mal abgesehen von der keiner Worte bedürfenden Schönheit der Musik – für mich so einzigartig: Zum einen ist der Titel perfekt. Sketch For Summer trifft in drei Worten genau die Stimmung der Musik: Ein sich in vorübergehender Melancholie verzehrender (aber jedes Jahr aufs Neue wiederkehrender!) Sommer. Flüchtiges und ewig Wiederkehrendes. Zum anderen ist das Lied auch deswegen perfekt, weil es nicht lang genug ist (Maneater, z.B., von Nelly Furtado ist ein guter Popsong, aber wie Millionen anderer guter Popsongs ist er lang genug, und man mag es irgendwann mal nicht mehr hören). Wohlgemerkt, Sketch For Summer ist nicht zu kurz. Im Rahmen seines selbst gewählten musikalischen Themas steckt das Stück alle möglichen Grenzen ab und holt aus sich das heraus, was herauszuholen ist. Und doch ist es nicht lang genug. Es ist nämlich auch nach dem 3465. Hören immer noch schade, wenn das Lied vorbei ist, es hinterlässt beim Hörer das immer wieder aufs Neue schmerzhafte Verlangen nach mehr. Vini Reilly schafft in drei Minuten das, wofür Miles Davis eine ganze Platte gebraucht hat. Hätte Miles Davis Gitarre gespielt, würde es wohl so geklungen haben wie Sketch For Summer. Und weil ich so auf Romantik stehe und weil ich von diesen Liedern, die nicht lang genug sind, nicht genug kriegen kann, werde ich auch in Zukunft das Lenkrad weg von der Leitplanke in Richtung Sonnenuntergang steuern, wenn ich mich mal wieder über das verfluchte Radioprogramm ärgere.

Dienstag, Juli 18, 2006

Bernd Cailloux: Das Geschäftsjahr 1968/69

Man hat hier und da die „präzise Lakonie“ gelobt oder war von dem „hinreißend lakonische[n] Porträt der 68er-Generation“ begeistert, die Bernd Cailloux in seinem Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ gezeichnet hat. Die eigene Lektüre des Buches bestätigt zunächst diesen Eindruck der Kritiker. Doch was heißt eigentlich Lakonie? Unser aller Lieblingsenzyklopädie, Wikipedia, meint dazu:

„Als lakonisch (griech. lakonikos, lat. lacinicus) wird eine knappe, kurze Ausdrucksweise ohne schmückende Elemente bezeichnet.“

So ein „lakonischer Stil“ lässt sich bei Cailloux, der mit kurzen Sätzen, vielen Absätzen und wenigen metaphorischen Zusätzen arbeitet, in der Tat ausmachen. Und doch trifft diese für das Ganze geltende Beschreibung es nicht ganz, wenn man aufs Detail schaut. Denn so wie die Stroboskop-Blitze der Muße-Gesellschaft, die der Ich-Erzähler zusammen mit seinem Freund Andreas Büdinger gegründet hat, durch die Diskotheken der erzählten Zeit zucken, so schlagen immer wieder scharfe und wie im Rausch pointierte Sprachblitze in die scheinbar schmucklose Lakonie des Erzählens. Etwa beim ersten großen Einsatz der Blitzgeräte zum Abschluss der Internationalen Songtage in der Essener Grugahalle 1968. Ein überwältigender Erfolg für die Muße-Gesellschaft, der den Protagonisten auf eine höhere Ebene des Erlebens hebt: „Im Taupunkt der Nacht hatte ich mich für einen kurzen [...] Moment frei gefühlt; frei von jeder Absicht, von jeglichem Zwang. [...] Das starre Gerippe des Ehrgeizes, der Fanatismus war gewichen, diese Erblast, immer eine Art Endsieg zu wollen, wie weggeblasen von der Orgie aus Musik und Licht.“ Oder wenn der Einsame seine Club-Besuche beschreibt und „die Träumer am Tresen“ versteht, weil sie wie er „einmal mehr am Nullpunkt der Nacht“ alleine dastehen. Der aber auch noch zum Schluss – nachdem er mit der Muße-Gesellschaft seinen Widerspruch des „Hippie-Businessman" gelebt und eine zur Geschäftsbeziehung gebrochene Freundschaft erfahren hat – an das „proustsche Blitzchen der Subversion“ glaubt. Es sind vor allem diese kleinen Juwele von Sätzen, die man sich am liebsten um den Hals hängen möchte, damit es um einen herum immer funkelt. Sie machen Cailloux’ Roman zu einem reichen Sammelsurium sympathisch-unspektakulärer Lebensweisheiten, wie „Vielleicht war ja das Schöne am Sex, solange wie möglich nicht zu wissen, um was es ging“ oder: „Das Glück lag immer hinter der nächsten Wand, damals wie heute“.

Das Porträt einer ganzen Generation mag, wie es die Spiegel-Rezension verspricht, „hinreißend lakonisch“ sein, das Buch von Bernd Cailloux ist es – zum Glück – nicht nur.

Montag, Juli 17, 2006

Solino

Wir suchen in Liedern, in Filmen, in Büchern, in Kunstwerken immer eine Bestätigung für das eigene Ich, stets danach Ausschau haltend, ob wir in der scheinbar wohlvertrauten Umgebung nicht doch noch einen Winkel finden, dessen Beschaffenheit uns bisher verborgen geblieben ist. Und wenn wir uns dann in ihn hinein­begeben, haben wir einen schönen neuen Ausblick auf unser Selbst. Regisseur Fatih Akin gibt ihn frei, diesen ungewohnten Blick auf uns selbst, indem er eine Geschichte über die Erfahrung des Fremden erzählt: Wie Familie Amato das heimatliche Dorf in Italien verlässt, um im tristen Duisburg allen Sprach- und Kulturbarrieren zum Trotz die erste Pizzeria des Ruhrgebiets zu eröffnen. Der Bezug zum Lebenslauf des Zuschauers ist garantiert, indem mit uralten Themen aus Familiensagen – Dreiecksbeziehung, Bruderzwist, Eifersucht, Ehebruch und Versöhnung der Brüder am Schluss – in einer Mischung aus Einwanderer-, Liebes- und Selbstfindungschronik ein Kaleidoskop sich überschneidender Projektionsflächen aufgemacht wird. Die eigentliche Botschaft des Films legt Fatih Akin bezeichnenderweise einem Regisseur – Baldi – in den Mund. Sie passt zum heißen Temperament der Hauptakteure: Lebe Dein Leben mit Feuer und Leidenschaft. --- Und schließlich: Komm, wir stellen uns in die Straße, in der Du aufgewachsen bist. Ich halte Dir von hinten die Augen zu und Du sagst mir, welche Farbe die einzelnen Häuser haben. Solino oder Duisburg – das versteht man überall.

Samstag, Juli 15, 2006

If This Ain't Good (Don't Know What Is)

Aus Finnland kam zuletzt so Einiges und rollte über uns hinweg: Erst das kurzweilig-donnernde "Hard Rock Hallelujah", das man bis nach Athen hören konnte. Und nun erreicht uns neue Kunde aus Helsinki, die umwerfende Stimme von Nicole Willis, die als weiblicher Orpheus und apart frisierte Muse von Jimi Tenor auch noch den hinterletzten Michel von seiner Winterschlafbank singt. Bereits seit Dezember letzten Jahres lief die grandiose Single “If This Ain’t Love (Don't Know What Is)“ auf jeder guten Tanzveranstaltung. Jetzt! Endlich! ist das Album da bzw. auch hierzulande erhältlich, ohne teure Importe beziehen zu müssen. Die Platte funktioniert eigentlich ganz einfach, wir kennen das Rezept bereits von Sharon Jones & The Dap Kings: Man nehme eine Soul-Platte von heute so auf als ob sie vor 30 Jahren produziert und eingespielt worden wäre. Am besten noch mit gänzlich analogem Equipment. Und bitte so, dass man keinen Unterschied hört. Die Soul Investigators, bei denen Jimi höchstpersönlich in die Flöte bläst, dachten sich, das können wir auch. Und ob sie können! Keep Reaching Up!

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Donnerstag, Juli 13, 2006

The Painter

Mein Lied des Jahres 2005 erschien bereits 1975. Hätte ich einen Last-FM-Account, so wäre „The Painter“ von der Rance Allen Group dort jedenfalls der am häufigsten gespielte „Top Track“. Doch wer ist dieser Rance Allen? Das erste Album der „Group“ wurde 1970 veröffentlicht, „The Painter“ wiederum findet sich fünf Jahre später auf „A Soulful Experience“. Als ich das Lied zum ersten Mal hörte, dachte ich zunächst, da sänge Al Green etwas, das ich noch nicht kenne. Und diese Analogie ist so abwegig nicht: Beide kommen aus der Tradition des Gospels, beide setzen ihre Musik immer wieder auch als Medium der Predigt ein. Die entscheidende Gemeinsamkeit liegt aber vor allem in der Reinheit der Stimmen: Wie Al Green könnte auch Rance Allen über ranziges Pommesfett singen, es würde trotzdem klingen wie aus dem Hohelied der Emotionen, als wenn der Musik in jeder Textzeile mit „Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön“ gehuldigt würde. So gibt es in „The Painter“ kaum eine stimmliche Nuance, die Rance Allen nicht erreichen würde, und darum braucht dieser Maler auch kein vorgegebenes Strophe-Bridge-Refrain-Schema, um vom ersten Hören an die allerschönsten Farbassoziationen ins synästhetische Gedächtnis zu brennen. Mir ist jetzt jedenfalls klar, warum ich mich bei der ersten Textzeile erst verhört habe, und zwar: „I’m gonna paint a blue (sic!) day“ (und nicht „new day“). Eine mir im Nachhinein übrigens sehr sympathische Fehlleistung.

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Blut, Schweiß und Tränen

Antony & The Johnsons in der Schorndorfer Manufaktur, 17. Juni 2005

Die schwere Hitze sitzt uns bereits im Nacken als wir in die Manufaktur eintreten. Drinnen legt sie uns noch weitere Gewichte um den Hals. Der Saal ist recht gut gefüllt, alle Stühle sind besetzt. Schweiß wohin man riecht. Ich versuche meinen von der langen Fahrt müden Körper mit Flüssigkeit zu stärken, doch es nützt nichts, ich muss unbedingt sitzen. Entlang der rechten Seite, zwischen Wand und Stuhlreihen, tun sich noch einige Lücken auf. Wir versuchen so weit wie möglich nach vorne zu gelangen, endlich kann ich mich auf den Boden sacken lassen, meinen Rücken gegen die Wand lehnen und mich über die fast freie Sicht freuen.

Rechts von mir streckt ein Mädchen blasse, aber kräftige Beine unter einem luftigen Rock hervor und dreht mir ihre schön geschwungene Schulter zu. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, sie wirkt jedenfalls noch sehr jung. Unruhe und ein derber Geruch von Fruchtbarkeit gehen von ihr aus. Endlich, das Licht wird gedämmt. Doch dann passiert eine ganze Weile gar nichts. Mein müder Blick folgt heimlich den Fingerkuppen des Mädchens, die auf nervösen Wegen über schwitzige Knie trippeln. Dann werfen ein paar Leuchter bunte Kegel auf die Bühne, dort wo neben einem gewaltigen Piano Cello, Bass, Violine und Akkordeon aufgereiht sind. Applaus: Fast lautlos schleichen einige Musiker zu den Instrumenten und nehmen vorne rechts ihre Plätze ein. Wieder Applaus als schließlich eine mächtige und schwammige Masse Mensch mit langem schwarz gefärbten Haar, dunkelroten Doc Martens und einer Umhängetasche an ihnen vorbeischlurft und sich an den Flügel setzt. Dann geschieht etwas für mich Außergewöhnliches. Bis dahin hatten Müdigkeit und drückende Hitze eine trübe Gleichgültigkeit in mir genährt. Als sich jedoch die traurig nach unten gebogene Sichel im feisten Gesicht dieses Meat Loafs einen Spalt weit öffnet und daraus die ersten zaghaften Töne durch den Raum schwirren, stürzt ein unerwarteter Schwall von Emotionen auf mich herab. Und zwar mit einer derart einnehmenden Gewalt, dass ich nicht anders kann, als mich dieser Stimme, die im Gender-Nirgendwo zwischen Elvis und Billie Holiday vorwurfsvolle Klagelieder an ein falsch auferlegtes Geschlecht richtet, hemmungslos hinzugeben.

Überall im Saal aufrichtige Ergriffenheit. Ich schließe die Augen und lasse alles willig mit mir geschehen. Vielleicht werde ich nie wieder so im Reinklang mit mir Lächeln, denke ich. Und ganz sicher werde ich nie wieder so dämlich dabei aussehen. Aber das ist mir in dem Moment egal. Sogar als mir ein paar Tränen über die Wange laufen, empfinde ich keine Scham.

Ich öffne die Augen erst wieder, als das Mädchen neben mir immer unruhiger wird. Man hört sie mit einer Freundin tuscheln. Hektisch klaubt sie ihre Sachen zusammen, schnellt auf, schiebt sich an mir vorbei und mit ihr ein Brodem von kruder Weiblichkeit. Auf dem Platz, wo sie gesessen hat, bleibt dunkle Schliere auf dem Boden zurück. Es ist ganz offensichtlich, dass das Mädchen menstruiert hat. Niemand saß an diesem Abend wohl näher an den Koordinaten der Antonyschen Selbstfindungstherapie als dieses blutende Mädchen. Denn in seiner Trauer – über den falschen Körper, mit dem er zur Welt kam, über die Frau, die er nie sein durfte, über die Kinder, die er niemals würde gebären können – menstruiert auch Antony. Jedes Lied eine neue quälende Monatsblutung, der immer wieder aufs neue heraufbeschworene Schmerz über die verpasste Chance eines vielleicht erfüllten Lebens. Antonys Geschichten erzählen von diesen ausgeschlagenen Möglichkeiten: Denn dort darf auch ein Jabba the Hutt verführerische Venus spielen, darf von wohlriechenden Stuttgarter Buben schwärmen, Frau sein und sich als hilfloses Kind gebären. So wie im Schlussakkord des vierten Liedes auf "I am a bird now": “Forgive me, Let live me, Set my spirit free, Weakness sown, Overgrown, Man is the baby”.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Freitag, 25. Februar 2005, Essen, Grend: Maximilian Hecker sieht aus wie ein bulgarisches Mädchen oder zumindest so, wie in meiner Vorstellung die Mädchen im Sofia der 70er wohl rumgelaufen sein müssen: blasser Teint, grau geschminkte Augenlider, strohiges Haar, das weit unter den Ohren auf der Wange und im Nacken kitzelt und schließlich weiße No-Name Turnschuhe, die in unruhigen Abständen ein Pedal treten. Ich stehe direkt vor der Bühne, mein Blick kann von links unten in seine Nasenlöcher kriechen und ihn beim Singen beobachten. Dabei öffnet er nicht einfach bloß den Mund und stößt Laute aus, nein, der untere Teil seines Gesichts präsentiert ein eigenwilliges Zähnefletschen. Mit halb zugekniffenen, im Glanz des roten Bühnenlichts gleichgültig wirkenden Lidern zieht er seine Oberlippe bis zur Nasenspitze hoch, bleckt den cremefarbenen Schmelz schöner Zähne und zeigt dem andächtigen Publikum, wie man in den Rhodopen für gewöhnlich wohl stilvoll vor die Hunde geht. Die Musik hätte was von einem feierlichen Abschied, wären da nicht die knorrigen Gelegenheitskommentare der Balkan-Bracke da oben, welche das Kleinwild da unten dazu veranlasst, alles doch nicht ganz so tragisch zu nehmen, ab und zu mal vor sich hin zu kichern und sich nach dem Konzert noch eine CD vom Künstler zu kaufen.

Zwei Tage später, Bochum, Bahnhof Langendreer: Es dauert seine Zeit bis Adam Green auf die Bühne stelzt. Vorher passiert erst mal eine Zeitlang gar nichts, nur die Körper rings herum schmiegen sich immer enger aneinander und beschließen den regen Austausch von schwitziger Wärme. Dann fangen doch noch die „Gnomes“ an zu spielen, eine Band, die keinen Bandleader zu haben scheint, immerhin aber einen Typen, der in der Mitte steht und so etwas ähnliches wie „weeahhr the nones“ ins Mikro knödelt. Das erste Lied wurde vermutlich an einem langweiligen Sonntag in einem verrauchten texanischen Diner geschrieben. „Oh je“, denke ich mir, der ich mal gerade so gar keine Lust auf fiesen Country habe. Die darauf folgenden Lieder sind aber besser oder zumindest unterhaltsamer, vor allem der Bass-Spieler kann was und verleiht der Musik dann doch einen gewissen Indie-Charme. Die Burschen spielen zum Glück nicht zu lange und nach einer weiteren Pause steht endlich Adam im Rampenlicht. Die Reihen energiegeladener Körper vor mir verdecken teilweise die Sicht, ich kann Adams Beine nicht sehen. Auf mich wirkt es, als wären sie auf einem kreuz und quer über das Podium fahrenden Fließband festgebunden. Mit ulkig-zackigen Bewegungen eiert er von einer Ecke in die andere und schafft es, während des gesamten Konzertes seine regungslosen Augen wie zwei bemalte Ping-Pong-Bälle aussehen zu lassen. Nicht ein einziges Blinzeln stört den trägen Blick unter der „Ich war schon mal in New-York“-Frisur dieses jugendlichen Derricks. Nach zwei Zugaben ist auch diese Show vorbei. Ich überlege mir beim Rausgehen, wie es wohl wäre, wenn Maximilian Hecker und Adam Green mal ein gemeinsames Projekt in Angriff nehmen, etwa eine Hörbuch-CD, auf der sie Bibel-Texte rezitieren. Bei der Gelegenheit könnten Sie auch gleich das mit dem Auge und dem Zahn auf ihre Weise richtig stellen.

Taana Gardner - Heartbeat

The Paradise Garage, Greenwich Village, 84 King Street. Irgendwann Anfang der 80er legt Larry Levan – eine, wenn nicht DIE DJ-Legende der Disco-Ära – eine neue Testpressung auf seinen Teller. Vier oder fünf mal spielt er sie und jedes Mal fegt er damit die Tanzfläche leer. Nur 105 Beats pro Minute. Vielleicht zu langsam für dieses handverlesene Publikum, welches daran gewöhnt ist, schnelle unerschrockene Disco-Stampfer vorgelegt zu bekommen, die erst hier zünden müssen, bevor sie ihren Siegeszug über die Tanzflächen der restlichen Welt antreten können. Doch Larry gibt nicht auf. Immer und immer wieder wird er in den nächsten Wochen versuchen, das Herz der Menge mit dem von Taana im Takt schlagen zu lassen, jeden Abend ein paar mal. Und seine Liebe für dieses Lied, sein Glaube daran, sollen sich auszahlen. Schließlich drängt das Volk immer zahlreicher aufs Parkett, zuletzt will man die Musik um keinen Preis verpassen. „Heartbeat“ wird zum Riesenhit und ist bis heute eine der meistverkauftesten 12-inches von West End Records.

Wie Sperrholzplatten, die von einem Fließband aus großer Höhe auf Marmor krachen: So schlägt sich der Beat über die Hirnwindungen in den Bewegungsapparat, der, einmal in Gang gesetzt, keine Erschöpfungszustände mehr zu kennen scheint. Im Refrain wird Tanas Stimme ein wenig hysterisch, überschlägt sich geradezu mit ihren Huldigungen an „ihr Herz“ – ihr zur Seite steht der Gegenpol eines taktvollen, aber durchaus leidenschaftlichen Gruppengesangs. Man braucht ein paar Durchläufe, um dieses üppige Angebot an akustischen Reizen, an denen sich Erregung in Bewegung entladen kann, in seiner ganzen Fülle aufzunehmen. “Moving all around, from my head to the ground“, heißt es, kurz nachdem sich alles tatsächlich auf einen Herzschlag reduziert hatte. Dann purzeln wieder ein paar Holzplatten herab und gerade als man denkt, nun könne ja nichts mehr kommen – nachdem Taana noch ein paar Worte des Abschieds gesprochen hat, wartet man nur noch auf das Fade Out – setzt ein derart unverschämt jaulendes Funkriff ein, dass man glaubt, den Saiten der Gitarre wurde es nur unter Androhung von Schmerzen entlockt. Ein Keyboard drückt noch ein paar beruhigende Tupfer auf die wunde Stelle bis die Musik sich schließlich doch in eine verheißungsvolle, aber traurig unerreichbare Ferne auf und davon macht. 105 Herzschläge pro Minute. Keinen davon möchte man verpassen.

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daft punk - da funk

vielleicht drei oder vier mal habe ich sie tanzen sehen: muriel, die spanierin, muriel, die austauschstudentin, die im selben wohnheim ein zimmer hatte. so lief man ihr gelegentlich über den weg. ihr äußeres entsprach keinem gängigen schönheitsideal, sie machte auch nicht den eindruck, sich gegen auferlegte ästhetische konventionen behaupten zu wollen. der wunsch, mit ihr zu schlafen – ein wunsch, den ich mir zu unterdrücken befahl, weil ich zu jener zeit in einer beziehung steckte – kam bei mir das erste mal auf, als ich sie tanzen sah: zu "da funk" von daft punk.

thomas bangalter und guy-manuel de homem-christo: solchen namen weist man nicht die tür, auch wenn sie ordentlich dagegen treten. und wenn es schon wummst, dann bitte richtig. was schimpft da so rum? ein keyboard durch den filter gejagt? es klingt jedenfalls wie das elektrifizierte maulen eines hungrigen katers. so macht er im takt auch erst einen kleinen buckel bevor er davonspringt. dabei das motzende tier immer vorneweg. schließlich trifft er ein paar leidensgenossen, sie alle stimmen ein in den krittelnden chor monotoner vielstimmigkeit, von der man beim tanzen versucht ein teil zu sein.

aus dem schutz einer zappelnden masse glitt meine aufmerksamkeit über die tanzfläche und fand in muriel ein faszinierendes studienobjekt. es waren ihre ungekünstelte, leicht nach vorn gebeugte haltung und ihr vor stärke strotzender blick, die mich in ihren bann zogen. ihr körper beschrieb buckelnde, aber zugleich auch sehr weiche figuren, während sich aus ihren augen eine ungeheure spannung entlud. mit all ihren bewegungen brannte sie so eine exakte darstellerische wiedergabe der musik in die luft. ihr tanz machte nicht nur sie, sondern auch die musik begehrenswert und belegte beides zugleich mit einem tabu. wie ich beschloss, nie ein wort mit muriel zu wechseln, so verleugnete ich "da funk" für die dauer der beziehung, in der ich steckte. erst nach ihrem ende konnte ich das lied ungeniert genießen, hätte ich es zuvor irgendwo, außerhalb der tanzfläche, zufällig gehört: das verräterische blitzen in meinen augen würde wohl meine wahren gedanken offenbart haben. disco im jahre 1996 - das lag für mich an einem geheimen ort irgendwo zwischen verbot und begehren.

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bran van 3000 - predictable

stell dir vor, da ist dieses mädchen, eine jener klassischen, unschuldigen, mit augen, die viel zu groß sind, um an ihnen vorbei schauen zu können; mit einer direktheit, die viel zu entwaffnend ist, um sich ihrer entziehen zu wollen. wie sie die gitarre so drauflos spielt und ihr gesang dich rührt, gerade weil er etwas schräg ist und nicht jeden ton trifft, fühlst du dich auf einmal wieder ein kleines bisschen hippie, ein kleines bisschen 17, wie damals halt, als du noch glaubtest, dass alles möglich und jede richtung ein versprechen sei. heute formulierst du andere glaubens-sätze, von wegen schlager sei der feind und die aussicht auf glückseligkeit suspekt. für einen moment streichst du diese sätze im geiste durch und lässt das mädchen singen. wie die hand nach dem steinernen herz greift sie in deine brust. und wie du das hier so aufschreibst, denkst du, das liest sich ja wie arno schmidt goes rtl, aber du schreibst weiter, hörst wieder auf den gesang, auf die worte, die er ungekünstelt vorträgt: "for once in your life / just say I'm worthy". und dann: "and I admit it is easy to sing to you / first, personally / call it the need to only talk about me / call it the need to feel". und schließlich, immer wieder, nur für dich "I am shining", "I am shining", "I am shining". danach kurzes inne halten. du bildest dir ein, sie hätte nur für dich gesungen. du erfährst die banale erkenntnis, dass das nicht stimmt. du denkst, du hast nun zeit, herauszufinden, ob deine ergriffenheit authentisch ist. und dann auf einmal kracht ein technicolor-beat in die stille, reißt alle vorherigen gedanken mit sich hinfort, macht sie hinfällig, von nun an koordiniert ein stumpfer rhythmus deine bewegungen, du kannst da nicht raus, du willst da nicht raus, die gedanken sind blei, du willst tanzen, tanzen, tanzen und dich schön fühlen. "it's so predictable to want to feel so beautiful".

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the family - river run dry

ein verregneter samstagabend irgendwann 1990. fast alles in dem auto, in dem ich sitze, ist falsch: der fahrer, der es lenkt: schmaler mund, der kläfft, wenn er sich öffnet, karohemd, blaugestreifte tennissocken, den rechten arm beim lenken gerade durchgedrückt, dabei das handgelenk nach oben abgeknickt, damit die finger sicher um das schwarze leder greifen können. in meinem kopf entsteht ein hassklischee erster güte: der prototyp eines mit beiden beinen im leben stehenden und mit seinem einen schwanz im after kleiner jungs steckenden fürsorglichen familienvaters. neben ihm seine langweilige, weil allem immer irgendwie unverbindlich und ihrem lenker stets unterwürfig-loyal ergebene freundin. hinten zu meiner linken schließlich jener freund, der die verbindung herstellt zwischen mir und diesem heuer vermutlich im kabinett gruseliger kuriositäten ausgestellten quasi-ehepaar. völlig falsch ist auch die richtung, in die das auto fährt. schon seit geraumer zeit kurvern wir um den parkplatz eines aus der rückschau absolut indiskutablen slipper-schuppens. wer war ich damals, dass ich mit in solche läden wollte? wer werde ich in 15 jahren sein und was wird mein zukünftiges ich aus den augenblicken machen, die mir heute als glücklich und richtig erscheinen?

mein blick geht durch die schlierige scheibe hinaus auf die lange reihe von menschen, die vor dem schuppen um ihren einlass betteln. kein parkplatz in sicht und dazu noch die aussicht, stundenlang im regen anstehen zu müssen. doch einen lichtblick gibt es für mich an diesem trostlosen abend. aus den boxen des autoradios breitet sich das ruhige timbre der stimme von alan bangs aus. eine stimme, welche für die insassen dieses fahrbaren gefängnisses wie die eines außerirdischen aus einer anderen welt geklungen haben muss, obwohl sie ja die eigentlichen aliens waren. ja, samstag nachts lief zu jener zeit, also zwischen 22 und 24 uhr, immer die "alan bangs connection". und alan bangs spielte an jenem abend, neben vielen anderen liedern und über die ganze sendung verteilt, fast das gesamte album von "the family".

von diesem side-project hatte ich zu jener zeit in einer prince-biographie bereits was gelesen. das album selbst war recht bald vergriffen, wurde aber 5 jahre nach seinem ersten erscheinen, dank des riesenerfolges von "nothing compares 2 u", wieder neu aufgelegt. denn das orginal von "nothing compares 2 u" wurde nicht, wie viele zu unrecht vermuten, von prince interpretiert, sondern eben von "the family". die auf dem plattencover abgeblideten musiker waren zum guten teil nur deko, prince hatte so ziemlich alle lieder selbst geschrieben und auch das meiste eingespielt. "so ziemlich alle lieder" heißt alle bis auf eins.

alan spielt zunächst das orginal von "nothing compares 2 u" und lässt verlauten, dass im weiteren verlauf der sendung noch mehr von dem album zu hören sein wird. ich bitte den kleine-jungen-schänder entgegen seiner zu erwartenden gewohnheit, nicht den sender zu wechseln, er spreizt die finger seiner nach oben abgeknickten hand zum fächer, lässt sie nacheinander auf das leder des lenkrads klopfen und lächelt seine freundin an. diese lächelt lieb und nett zurück, ein wort fällt während dieser szene nicht, na hauptsache der sender bleibt und ich kann während der nun gänzlich ziellos gewordenen fahrt weiter alan bangs lauschen.

die erste stunde ist vorbei, es folgen die nachrichten. gleich darauf holpert ein beat mit jeweils zwei kurzen und zwei langen schlägen aus den boxen. tm tm tam tam, tm tm tam tam. streicher setzen ein, geben dem trockenen rhythmus einen dramatischen überbau, scheinen sich zu unermesslicher melancholie zu steigern, bis sie schnell wieder abflauen, um nun einer stimme das feld zu überlassen. "how long I cry? 'til the river run dry" singt st.paul. und als der beat wieder losschlägt, steht susannah ihrem partner bei. mit unermüdlicher kraft peitschen sie sich im wettlauf mit den wellen der verzweiflung schlagenden streichern gegenseitig hoch. doch der beat bleibt unerbittlich, er haut alles entzwei, die liebe war, natürlich, von vornherein zum scheitern verurteilt. zum scheitern in schönheit: "you never told me that our love, it had no chance". river run dry ist das einzige lied, auf dem "family"-album, das prince nicht geschrieben hat. es ist das beste. bald darauf ist es vorbei.

die sendung ist nun fast zuende. wie ich so aus dem fenster schaue, merke ich, dass wir bereits wieder auf dem heimweg sind. ohne ausgestiegen, ohne in diese lächerliche disco gegangen zu sein. ich richte meinen blick wieder auf das lenkrad, auf die nach oben gespreizten finger, die nacheinander auf das leder klopfen, um es dann mit starkem griff zu umschließen. "na wenigstens für dich hat sich der abend gelohnt", höre ich den fahrer kläffen, der weiß, dass ich prince-fan bin. seine hand will eine ruhige sichere führung demonstrieren. ich weiß nun, ich will künftig lieber selber mit meinem eigenen auto fahren.

carmen consoli - orfeo

das strahlende catania an einem schwülen augustnachmittag des jahres 2001. mit einer freundin schlendere ich durch die von der hitze erdrückten straßen dieser stadt, welche mir von klein auf das widersprüchliche bild von einem typischen und zugleich untypischen sizilien eingebrannt hat. als ich mit hilfe und rat der freundin in einem cd-laden nach neuer italienischer musik stöbere, entdecke ich „stato di necessità", das damals aktuelle album von carmen consoli. ihre musik kenne ich seit 1997, da sind mir ihre markante stimme und ihr etwas eigenwilliger gesangsstil erstmals in "confusa e felice" aufgefallen. carmen consoli ist, das cover lässt daran keinen zweifel, eine sehr schöne frau, es ist eines dieser fotos, die ganz bewusst darauf abzielen, beim betrachter gefühle von sehnsucht und begehren auszulösen. der händler klärt mich darüber auf, dass carmen ja aus catania stamme und jedes ihrer alben eine anschaffung wert sei. die freundin lächelt und meint, es würde erst einmal genügen, wenn ich in das neue album reinhöre, was ich dann auch tue. "orfeo" heißt das lied, das mir sogleich ins ohr fällt. eine sanft vorgetragene klage an den schönen kranken helden des herzens. da ich nicht weiß, wie lange ich diesem großangriff auf jene rezeptoren, die auch bei mir für gewöhnlich sehnsucht und begehren auslösen, standhalten kann, gebe ich mich frühzeitig geschlagen und kaufe die cd. einige tage später, ich bin schon wieder in deutschland, entdecke ich darauf einen hidden track, eine live-version von "orfeo". es klingt als müsse sich diese stimme einen durchgang durch die hitze der straßen von catania erkämpfen. il varco è vicino ed io sento già il tepore, singt sie. die klage, das tragische moment im lied ist noch da, aber unvermittelter, nicht mehr so berechnend auf die sensibilität einer mitleidenden zuhörerschaft zielend. dazu passt, dass der track versteckt ist, der hörer muss das lied finden, nicht umgekehrt. ich packe die live-version von "orfeo" auf das erste mixtape, das ich nach meiner rückkehr aus sizilien mache, und denke, es ist okay, wieder daheim zu sein.

reinhören

Prince - 13. Oktober 2002

Ca. 17.30 Uhr vor der Frankfurter Festhalle. Man steht, noch weit vom eigentlichen Halleneingang entfernt, vor verschlossenen Toren. Als ich zu dem kleinen, vor den Gittern versammelten Grüppchen dazu stoße, wundere ich mich darüber, dass noch so wenig los ist. Wird das etwa eine Privatparty? Vom Würstchenstand, einige Meter entfernt, quäkt ein Live-Mitschnitt von der 90er Nude-Tour aus einem kleinen Kassettenrecorder. Um mich herum ein babylonisches Sprachgewirr aus Deutsch, Englisch, Niederländisch, Italienisch und ein zwei nicht weiter identifizierbaren Idiomen (irgendwas Arabisches?). Im weiteren Verlauf schnappe ich Gesprächsfetzen auf a la „Ja, damals bei der Diamonds & Pearls-Tour bla bla“ oder „Letzte Woche in London bla bla“. War ja klar, dass die Gelegenheits-Konzerbesucher heute in der Unterzahl sein würden. Sei’s drum, gegen 18.30 – die Menschentraube um das Gitter ist größer geworden – kommt das Sicherheitspersonal und lässt sich für das Öffnen der Tore beklatschen. Im selben Moment bricht die Menge tumultartig auf den Hallenvorplatz und rennt so schnell sie kann in Richtung Haupteingang, um sich auch ja die besten Plätze im Innenraum zu sichern. Ich denke mir, ich bin zu alt für so was, außerdem hab ich den Prinzen ja schon oft genug gesehen und erinnere mich obendrein noch zu gut an „mein letztes Konzert mit ihm“, das sehr enttäuschende 98er Konzert in der Köln-Arena. Ein eher lustloser Prinz schleppte sich seinerzeit durch ein gerade mal andertalbstündiges Pflicht-Set, in dem so ziemlich jeder Song auf eine Minute gekürzt und in einem unerträglich langweiligen Jam-Medley vermurkst wurde. Lass die mal rennen, denke ich mir so und sollte zunächst recht behalten. Denn vor dem Eingang sind weitere Absperrungen aufgebaut, nun werden die Eintretenden erst mal gefilzt.

Endlich im Gebäude angelangt, ist wieder Warten angesagt, wieder wird gerannt, geschubst, geschoben und dann endlich das Ticket abgerissen. So, nun ist aber auch gut, ich trete in den doch sehr großen Innenraum und muss heimlich lachen, weil sich vorne an der Bühne gerade mal 7 oder 8 lose stehende Menschen-Reihen gebildet haben. Wie gut, dass ich meine Kräfte nicht beim Rennen verschwendet, sondern für später aufgespart habe. Ich sollte sie noch brauchen.


Also gilt es erst einmal, die Toilette aufzusuchen, sich aller überflüssigen Oberteile zu entledigen, selbige um den Bauch zu binden und schließlich ganz hinten in der Halle mit einem Getränk in der Hand auf einem der Stühle, welche auf einem schrägen Podest aufgestellt sind, Platz zu nehmen. Der Innenraum ist noch so leer, ich kann mir kaum vorstellen, dass sich die Halle bis 20.00 Uhr noch füllen wird.
So gegen halb acht bewege ich mich in Richtung vorderes Hallendrittel (das man zu jenem Zeitpunkt immer noch ohne sich durchzwängen zu müssen locker erreichen kann) und „sichere“ mir einen Platz so ca. in Reihe 11 (den Mitgleider-Bereich mitgezählt!), indem ich mich auf den Boden niederlasse. Inzwischen legt ein DJ neuere Prince-Songs auf (Come On, The Daisy Chain, usw.) unterbrochen von James Brown- und George Clinton-Klassikern. Kurz vor acht stehe ich dann doch auf, auch weil sich der Bereich um mich herum merklich gefüllt hat und ich nicht will, dass jemand über mich herfällt. Bereits kurze zeit später geht das Licht aus, die Menge jubelt, auf der Bühne kann man sich bewegende Silhouetten erahnen, die ihnen vorbestimmte Plätze einnehmen. Die sich so formierte Band fängt an zu jammen, es erklingen – sehr unprätentiös, weil ohne Licht und ohne Pyrotechnik eingeleitet – die ersten Töne von „The Rainbow Children“. Der Opener des gleichnamigen Albums eröffnet auch dieses Konzert. Eine weitere Silhouette gesellt sich im Dunkeln dazu, jeder weiß, wer das ist, man sieht es ja schon an der Größe, alles quiekt und schreit und nun geht endlich das Licht an und da steht er der Zeremonienmeister des heutigen Abends, alles, aber auch wirklich ALLES – schlechte Platten, mein schlechtes letztes Konzert, unverschämte Ticket-Preise – ist in diesem Moment vergessen. Seine durch das Mikro
in die Tiefe verzerrte Stimme orakelt etwas Mystisches, die Halle starrt gebannt auf das Geschehen, kann jetzt erst die Personen auf der Bühne ausmachen: von links: Renato Neto an den Keyboards, Rhonda Smith, Bass, John „das Tier“ Blackwell an dem hinter einer Glaswand postierten Schlagzeug, Candy Dulfer, Saxofon, Maceo „Gott“ Paker, Saxofon, Greg Boyer, Trompete. Und dazwischen natürlich Prince, der an dem Abend noch so ziemlich alles spielen sollte. „Did You Miss Me?“ fragt er das Publikum und lächelt verschmitzt. Wartet aber kaum auf eine Antwort, sondern kündigt sogleich „Real music by real musicians“ an. Überhaupt zeigt er sich ungewohnt redefreudig, ständig sucht er das Gespräch mit dem Publikum, stellt Fragen, hält Predigten und selbst die nimmt man ihm nicht übel. Denn an diesem Abend sehen wir einen so unglaublich guten, spielfreudigen, charmanten, humorvollen, witzigen, gut gelaunten und ausgelassenen Prince, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen zu haben glaube. Wir sind es wohl, die Regenbogenkinder, die der kleine Mann da vorne auf Teufel komm raus beglücken mag. Gleich nach diesem Song folgt ein Klassiker, aber einer, mit dem wohl niemand, ich am allerwenigsten, gerechnet hat: Pop Life. Hab ich dieses Lied überhaupt schon mal live-haftig (also nicht als bootleg-konserve) miterlebt? Jedenfalls hab ich erst in diesem Moment geschnallt: Hey, ich bin ja auf einem Prince-Konzert. Und Pop-Life war kein alter Song. Pop Life klang frisch und kraftvoll wie nie zuvor. Pop Life wurde in einen Mantel von Funk und Jazz gepackt, wie er den aktuellen Prince Sound bestimmt – meine Glieder machten sich selbständig, zu dieser Musik kann ich nicht anders als Tanzen, Tanzen, TANZEN. Es folgt „Xenophobia“, der Meister klärt uns darüber auf, dass das Jahr 84 ja schon vorbei sei, wir sollten
uns keinen nostalgischen „Purple Rain“-Abend erwarten, hoffentlich aber hätten wir viel Zeit mitgebracht, denn er hat noch einiges mit uns vor. Das Konzert sollte insgesamt 2einhalb Stunden dauern…

Andere Musiker haben eine Begleitband. Prince lässt eine Phalanx von Halbgöttern antanzen. Beim ersten Solo von Maceo Parker fragt er schelmisch: Do You know that man? Maceo spielt, als wäre er von einem andern Planeten zugeschaltet. Und man mag über Candy Dulfer wegen „Lilly was here“ herziehen wie man will. An diesem Abend war sie Maceo mindestens ebenbürtig! Über die anderen, mir bis dato nur auf dem Papier bekannten Musiker kann man gleichfalls nur ins Schwärmen geraten.
John „das Tier“ Blackwell, der Trommler, bekam sein Solo und meine Güte, ich dachte, der Mann hebt gleich ab vor Energie. Er prügelte auf sein Instrument ein als wäre es sein Erzfeind, schmiss einen Stick durch die Halle und kämmte sich mit der freigewordenen Hand vor einem vorgehaltenen Spiegel die nicht vorhandenen Haare. Natürlich ist das Show, natürlich ist das Gepose, aber what the hell, genau deswegen geh ich doch auf solche Konzerte! Rhonda am Bass sieht so gut aus, dass sie in anderen Bands gar nicht spielen können bräuchte, hingegen war ihre Performance tadellos. Gelegentlich sang sie auch mal die Backing-Vocals (z.B. auf Take me with you). Renato Neto bekommt erst ganz zum Schluss, beim letzten Lied
Anna Stesia, die Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Ich dachte, ich wäre auf einem Konzert von Brian Eno.

Und Prince selbst?! Er kann einfach alles Spielen! Bass, Gitarre, finger-virtuose Piano-Medleys, dazu gibt er mal eben – bei Adore, Condition Of The Heart oder Starfish and Coffee – Lehrstunden in Sachen Gesang, ganz zu schweigen von "Peach", ein auf Platte eher unscheinbarer Song, der live in einer "heavy-Version" dargeboten wurde, die jede in diesem Forum genannte Gitarrenband an die Wand gespielt hat!
Natürlich kredenzt er auch viele alte Hits – bei so einer großen Halle war damit wohl zu rechnen. Und gegenüber seiner eigenen Aussage zu Beginn meint er dann auch zu Lied 5 (oder 6): „Ich hatte gesagt, ich würde es nicht spielen, aber ich war so lange nicht mehr in Deutschland, außerdem hab ich jetzt Lust darauf“. Und na klar, alle sangen sich lauthals ihr „Purple Rain“ von der Seele, und das für mehr als
10 Minuten! Danach gibt’s wieder Knüppelfunk erster Sahne, „five boys and five girls“ werden auf die Bühne geholt und zum Dance-Contest geladen. Der von vielen als „Superstar“ bezeichnete Musiker hat keine Berührungsängste, scherzt mit seinen Fans,
hilft ihnen auf die Bühne und witzelt mit einer jungen Dame, der er ein scheinbar nur für sie gedachtes Gitarren-Ständchen darbietet. Ich will nicht ausschließen, dass mir im Verlaufe des Abends mal ne Träne aus den Augen gekullert ist, weil es doch so schön war, nach all den Jahren einen Prince zu sehen, der weiß was er kann und der ein bisschen mehr zu sich selbst gefunden zu haben scheint. „Prince is Music“, hieß es neulich mal in einem Thread auf prince.org. Diesen Satz will ich gerne und
aus ganzer Seele unterschreiben.

Velázquez: Las Meninas (1656)

Was sofort auffällt: Wie das Bild seinen Betrachter anschaut. Fast alle der dargestellten Personen wenden ihm jeweils ihren Blick zu. Und nicht nur das, offensichtlich wurde hier ein ganz besonderer Moment der Kunst festgehalten, nämlich das Malen selbst: Ein Maler scheint dazu beauftragt, die königliche Familie zu malen. Und das ist der große Trick: Velázquez malt einen Maler beim Bildmalen - die Malerei macht sich also selbst zum Thema. Dieser Aspekt an sich ist bereits ausgesprochen modern (zumindest dann, wenn man „Selbstreferenz“ als Kennzeichen moderner Kunstwerke versteht). Aber damit nicht genug: Das, was der Künstler malt, ist nicht auf dem Bild abgebildet, nein. Es wird dem Betrachter explizit vorenthalten, denn von der Leinwand des Malers sehen wir nur den Rücken. Das, was der Künstler malen soll, ist außerhalb des Bildes, das sind wir, denn der Maler schaut uns direkt ins Gesicht. Damit kommt noch ein anderes entscheidendes "Merkmal der Moderne" ins Spiel: Das Bild erhält seinen Sinn allein durch unsere Präsenz. Die Theorie, dass der Betrachter ein Bild erst durch seine Beobachtung "existieren" lässt, ist hier sozusagen ver-BILD-licht.

Das eigentliche Sujet des im Bild gemalten Bildes - das man ja nicht sehen kann, weil die Leinwand uns nur ihre Kehrseite zeigt - findet sich dann aber doch noch thematisiert: Hinten an der Wand, in etwa zentraler Position, hängt ein Spiegel. Er reflektiert das Königspaar Phillip IV und seine Frau, also das, was Velázquez Werk nicht zeigen kann (bzw. nicht zeigen will). Aber diese historischen Bezüge (das Königspaar, die Hoffräulein – Las Meninas) haben mich nie interessiert. Mich beeindruckt, wie hier das Wer-betrachtet-hier-eigentlich-wen-Schauspiel vollends durcheinander gerät und die Ordnung der Blicke auf den Kopf gestellt wird. Oder wie Michel Foucault schreibt: „An dieser Stelle genau findet ein ständiger Austausch zwischen Betrachter und Betrachtetem statt. Kein Blick ist fest, oder: [...] Subjekt und Objekt, Zuschauer und Modell [kehren] ihre Rolle unbegrenzt um.“ (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1999. S. 33)

Japan - Tin Drum

Lieber V.,

Du hast ja recht: Ich bin feige! Als Du mich bis zu unserem nächsten Treffen um einen Musiktipp gebeten hattest, wolltest Du den bestimmt nicht schon vorher in schriftlicher Form. Sicher, ich habe mich enorm geschmeichelt gefühlt, als Du mich gefragt hast, ob ich nicht eine Empfehlung in punkto „guter angesagter Musik“ hätte. Aber hier fängt das Problem ja schon an: Bei der Platte, die ich Dir ans Herz legen will, kann von „angesagt“ nicht wirklich die Rede sein, denn sie ist immerhin schon 23 Jahre alt. Obendrein noch von einer Band, die anno 1990 ihr letztes Album veröffentlicht hat und dies seinerzeit, um ja keine „Reunion“-Hoffnungen aufkommen zu lassen, unter anderem Namen tat. Alles nicht so wirklich trendsetzend. Aber mal ehrlich, V., Musik, von der es hieße, sie sei „trendy“, willst Du doch gar nicht kennen.

V., als ich ein bestimmtes Lied der Platte zum ersten Mal bewusst hörte – also, ich habe dieses Lied bereits vorher gehört, aber in jenem Moment eben erstmalig bewusst -, da schrieb ich gerade einen Brief an Dich. Und so, wie die Musik damals endlich zu mir kam, so soll sie auch zu Dir kommen, wieder mit einem Brief. Nun weißt Du, warum ich nicht bis zu unserem nächsten Treffen warten wollte. Das Lied hieß „Still Life In Mobile Homes“ und ist von Japan.

Du merkst hier schon, V., meine Geschichte vom Weg zu dieser Platte ist eine Geschichte voller Umwege: Meine erste Begegnung mit „Still Life In Mobile Homes“ fand dann sinnigerweise auch nicht auf „Tin Drum“ statt (ha! nun weißt Du’s, „Tin Drum“ von Japan heißt mein Tipp!), sondern auf dem vermeintlichen „Live“-Mitschnitt von „Oil On Canvas“. „Oil On Canvas“ war eigentlich kein „echtes“ Live-Album, aber das ist eine andere Geschichte. Was zählt ist, dass mich „Still Life...“ und all die anderen Tin Drum-Lieder, die auf „Oil...“ drauf sind (insgesamt 7 von 8, lediglich „Talking Drum“ fehlt) stark nach dem „Original“ verlangen ließen.

V., lass Dich bitte nicht vom Cover abschrecken. Ich höre förmlich Dein brummiges „wie oberflächlich plakativ ist das denn?“ Da sitzt ein blasser Brite mit 80er-Glamour-Frisur und Loser-Brille in einem dezent mit Asia-Versatzstücken dekorierten Raum und hält vor Mao-Portät (Japan?) und Reisbauern-Hut demonstrativ Stäbchen und Reisschälchen hoch. Als sozusagen bildliches Negativ verweisen Glamour und Glasses aber auf genau das, was Japan musikalisch immer ausgezeichnet hat: Die enge Verzahnung von Style und Intellekt.

Und schon im Opener „The Art Of Parties“ ballt sich beides zur mächtigen Faust: Da setzt das Synthie-Gebläse gezielte Auf-und-ab-Schläge gegen den Rhythmus, während ein weinerlich anmutender Singsang die gebrochene Schönheit der Jugend beschwört. „Ghosts“, der vermutlich größte Single-Hit der Gruppe, stellt wiederum das in den Vordergrund, was mich an Japan von Beginn an am meisten fasziniert und berührt hat: die Stimme von David Sylvian. Diese Stimme, die fleht, umschmeichelt, aber zugleich auch eine ihr stets anhaftende Melancholie verbreitet:

Just when I think I'm winning
When I've broken every door
The ghosts of my life
Blow wilder then before

„Canton“ ist das wohl unfreiwillig berühmteste Stück auf „Tin Drum“: Oder kennst Du als fleißiger TV-Gucker auch nur eine Sendung übers Origami-Falten, die ohne diese für sämtliche Fernost- und East-meets-west-Klischees herangezogene Melodie ausgekommen wäre? Noch einmal zu „Still Life In Mobile Homes“ und der Ambivalenz von Mobilität und Stillstand, wie sie im Titel benannt und in der Musik realisiert wird, indem mehrere Schichten aus holprig-sperrigen Rhythmen, unterkühlten Keys und nervösen Basslinien zu einer klirrenden Dynamik finden. Die „Original-Version“ auf „Tin Drum“ wirkt dadurch kompakter, prägnanter. Auf „Oil On Canvas“ nimmt sich das Lied selbst ein wenig zurück, verhaltener im Arran-gement, zaghafter im Gesang. Vorsicht und Zurückhaltung prägten damals auch jenen frühen Brief an Dich. Vielleicht konnte ich das „Still Life...“ von „Oil...“ in jenem Moment gerade deswegen so gut greifen. Und vielleicht entsprechen die Direktheit und Prägnanz von „Still Life...“ auf „Tin Drum“ bzw. die Umwege bis dorthin ja den Wegen, die unsere Freundschaft genommen hat und dem, was sie aktuell ausmacht. Ich weiß, Du magst kurze griffige Schlussformeln, darum möchte ich meine Empfehlung zu „Tin Drum“ mit dem Zweifel losesten Kompliment abschließen, das mir zu uns beiden in den Sinn kommt: Diese Platte ist wie eine gut gereifte, wegbereitende Freundschaft!

In diesem Sinne:

Dein Don

Prince - The Rainbow Children (2001)

Seit 1987 liegt auf den Besprechungen von Prince-Platten ein Fluch, der sich nur schwer bannen lässt. Das in jenem Jahr erschienene Doppelalbum „Sign o’ The Times“ gilt nämlich im Konsens von Hörerschaft und Plattenkritik als kreativer Höhepunkt im musikalischen Schaffen des Prinzen von Minnesota. Und wie es das vermeintliche Erreichen und Überschreiten eines künstlerischen Zenits so mit sich bringt, ist damit eben auch, natürlich, „die geniale Zeit vorbei“. „Lovesexy“, der aberwitzige Nachfolger zu „Sign“, war zwar auch noch, aber irgendwie schon nicht mehr ganz so gut. So kam es, wie es kommen musste: Alle Jahre wieder konnte man es hören, das epigonenhafte Nachplappern, den einstimmigen Chor der Ungerechten. Jedes neue Werk des Winzlings wurde an dem Geniestreich von einst gemessen und je mehr Jahre verstrichen, desto eher wurde die Unkenntnis der Kritik angesichts des stetig wachsenden Post-87er Paisley-Park-Outputs offensichtlich. Verlassen konnte man sich dabei auf eine bemüht wirkende Vorverurteilung: Auf eine sicherlich nicht immer unbegründete, aber oft eben auch zu aufgesetzt und abgeschrieben wirkende Bescheidwisserei, die glaubte, dem neuesten Prince-Werk mal wieder die Originalität absprechen zu müssen, nachdem sie für die argumentative Untermauerung der übernommenen Blaupause die zwei drei in der heimischen Stadtbibliothek vorhandenen Standards (als Verweis auf die musikalische Grundbildung: "Purple Rain", als Nachweis für die unwiederholbare Genialität: eben „Sign o’ The Times“) zum Vergleich zitiert hatte.

Und erneut greift es sich leicht zum bequemen Raster, ein Beispiel aus den wenigen Rezensionen zu „The Rainbow Children“: Da spricht der Kritiker davon, wie er das Album zweimal gehört habe, es bliebe jedoch nur ein „fader Beigeschmack“, wenn man es denn womit?, natürlich!, mit „Sign o’ The Times“ vergleicht. Aber muss er, darf er denn überhaupt sein, dieser ewige Vergleich um jeden Preis?

Zunächst einmal: Nur zweimal „Rainbow Children“ hören gilt nicht und reicht nicht. Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, die Größe von "Sign" ebenfalls bereits nach dem zweiten Hören erfasst zu haben. Außerdem lässt sich nicht miteinander vergleichen, was völlig verschiedene Ausgangspunkte und Konzepte hat. War „Sign“ destilliertes Konzentrat aus dem stilistisch vielfältigen Anbau zweier Vorgängerprojekte (zunächst unter den Titeln „Dream Factory“ und „Crystal Ball“ als Drei- bzw. Vierfachalbum geplant), so steckt „The Rainbow Children“ musikalisch engere Grenzen um Jazz und Funk ab, hat dafür aber ein viel breiteres religiös-episches Erzählprogramm.

Ach ja, das unangenehme Thema „Zeugen Jehovas“: Hier kann man sich nun trotzig in die Ecke stellen und mit dem Zeigestock die alte Gretchenfrage entstauben. Dagegen steht die Frage, was (und wem!) es denn überhaupt (etwas) nützt, den Hörern mit Blick auf die religiösen Implikationen der „Rainbow Children“-Texte ein engstirniges „dafür“ oder „dagegen“ aufzudrängen.

Jenseits aller Vergleiche wächst „The Rainbow Children“ zu einem einzigartigen, wohldurchdachten und reifen Konzept heran, das sich einfachen Zugriffen zunächst verweigert. Es bietet jedenfalls kaum catchige Melodien, an denen man sich sofort orientieren kann. Und dennoch finden sich hier einige der eindringlichsten Stücke, die Prince jemals geschrieben hat: Man nehme nur das komplexe und zugleich filigrane Titellied; oder das weiche, streichelnde "Mellow"; man tanze Walzer mit der Liebsten zu "She Loves Me 4 Me" oder wackele mit dem Gesäß bei "The Everlasting Now". Meinetwegen darf man bei "Family Name" ruhig weiterskippen, aber das mache ich auch bei "Slow Love" von "Sign". „The Rainbow Children“ – das ist einer der ganz großen Würfe unserer Tage, der auf Vergleiche verzichten und die Reputation eines Künstlers wiederherstellen kann, der sich bis auf Weiteres von den realen Bezugsgrößen des Business, wie Plattendeals, Promotion oder Verkaufszahlen, verabschiedet hat. Wer sich auf dieses Prince-Album nun vorbehaltlos und vor allem ohne Vergleichszwang einlassen will, sollte genug Neugier mitbringen, denn es bedarf schon einiger Hörproben bis sich der Paisley-Kosmos in seinem ganzen Aufbau erschließt. Der Musiker selbst bringt es in seiner James-Brown-Reminiszenz „The Work, pt. 1“ auf den Punkt: „I’m willing to do the work – what about you?“

Mittwoch, Juli 12, 2006

copyright-vermerk

die reproduktion wie auch die kommerzielle verwendung der auf dieser blogseite veröffentlichten texte ist ohne einverständnis der autoren untersagt! ihr müsst also steven bascom vorher fragen. klingt doch gut, oder? außerdem distanzieren wir uns natürlich von den inhalten der hier verlinkten seiten. da haben wir nämlich mal so gar keinen einfluss drauf. übrigens: die auf "nur die guten" geposteten fotos/bilder sind entweder direkt von uns geschossen oder wurden uns ausdrücklich zur veröffentlichung überlassen.

zusatz: vielleicht sollte ich mich zur sicherheit auch von meinen eigenen inhalten distanzieren? so ein bisschen distanz hat jedenfalls noch keinem geschadet, übrigens auch bei der lektüre von texten nicht.

kontakt und anfragen bitte an: nur_die_guten[at]gmx-topmail[punkt]de